Hengstenbergpädagogik

„Wir alle kennen diese ursprünglichen Regungen der Kinder, die immer wieder darauf hinauslaufen, allein probieren zu wollen. Wir sollten nur noch mehr darum wissen, dass diese unermüdliche Überwindung von Widerständen aus eigener Initiative dem Kind jene Spannkraft verleiht, die wir ihm zu erhalten wünschen, und dass die Freude an der Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten darauf beruht, dass es selbständig beobachten, forschen, probieren und überwinden durfte.“

(Elfriede Hengstenberg)

Geschichte der HENGSTENBERG-Arbeit
Elfriede Hengstenberg (1892-1992) war von 1915 bis 1980 in Berlin als Bewegungspädagogin privat und als freie Mitarbeiterin an Schulen tätig. Von 1928 bis 1933 unterrichtete sie an der Montessorischule
Berlin-Dahlem, und 30 Jahre hatten Kinder einer Zehlendorfer Privatschule statt der üblichen Turnstunden Unterricht bei ihr. Privat kamen auch jüngere Kinder etwa vom vierten Lebensjahr an und Kinder und Jugendliche anderer Schulen einzeln oder in Gruppen zu ihr. Sie versuchte wo immer möglich die Mitarbeit der Eltern der von ihr betreuten Kinder zu erreichen. Sie vermittelte ihnen wie auch Pädagogen und anderen interessierten Erwachsenen ihr Anliegen eines respektvollen Umgangs mit Kindern.
Mit Besorgnis sah sie den Zustand, in dem die meisten Schulkinder zu ihr kamen. Ihre Schlaffheit oder Vertobtheit, die zu Haltungsschäden oder anderen Auffälligkeiten führten, sah sie schon damals als
Reaktion auf Anforderungen, die dem wachsenden, kindlichen Organismus nicht entsprachen. Beim Beobachten der ursprünglichen Regungen kleiner Kinder, die von ihren Eltern bei ihren selbständigen
Unternehmungen nicht gestört wurden, war ihr aufgegangen, wie sich aus dem Desinteresse jener oft lustlosen, gelangweilten Schulkinder wieder ein echtes Interessiertsein entwickeln konnte. Sie hatte
erkannt, dass gerade “diese ununterbrochene, unermüdliche Überwindung von Widerständen aus eigener Initiative dem Kind jene Spannkraft verleiht, die wir ihm zu erhalten wünschen”.
Daher wählte und erfand sie Aufgaben und Geräte, bei denen die Kinder Lust hatten allein zu experimentieren. Sie ließ sie selbständig erforschen, wie sie auf Hindernisse und Schwierigkeiten angemessen reagieren konnten. So entdeckten die Kinder mit eigenen Sinnen Zusammenhänge zwischen ihrer Verhaltensweise und dem spielenden Gelingen oder Nicht-Gelingen eines Versuches. Sie nahmen
wahr, was der freien Entfaltung ihrer Fähigkeiten im Wege stand. Dadurch waren sie auch bereit, ihre Einsichten ins tägliche Leben zu übertragen.
Elfriede Hengstenberg war zu dieser Einstellung und Unterrichtsweise durch ihre jahrzehntelange Zusammenarbeit mit Elsa Gindler und ihr Studium bei Heinrich Jacoby gekommen. Diesen beiden
außergewöhnlichen Pädagogen der Erwachsenenbildung war das unverstörte kleine Kind ein Phänomen, dem sie aufmerksamste Beachtung schenkten. Es gab ihnen Einblicke in die Entfaltungsmöglichkeiten, die in der Natur des Menschen liegen.
Jacoby wies bereits 1926 darauf hin, wie diese Möglichkeiten oft schon in der frühen Kindheit irritiert, entmutigt oder verschüttet werden. 1945 sagte er: “Diese Fähigkeiten werden umso gewisser an den
Tag kommen, je weniger wir uns einmischen und in den ersten drei bis vier Jahren ́fördern ́ oder ́helfen ́ wollen, in denen ein kleiner Mensch die Beziehung zur Welt erlebt und sich erarbeitet.”

Pädagogische Gebrauchsanweisung - Aktualität der HENGSTENBERG-Arbeit
Für diejenigen, die sich für ihr Zusammensein mit Kindern eingehend mit der Vorgehensweise von ELFRIEDE HENGSTENBERG beschäftigen wollen, ist es sinnvoll, sich ebenso gründlich mit der Kleinkindpädagogik der ungarischen Kinderärztin EMMI PIKLER und der von ihr erforschten autonomen Bewegungsentwicklung auseinanderzusetzen.
Sie zeigt, zu welch harmonischen Bewegungen der Säugling gelangt, wenn er sie sich im freien Spiel selbst erarbeiten kann. Dazu gehört, dass er bei seiner Pflege eine solch aufmerksame Zuwendung
erfährt, dass dadurch sein Bedürfnis nach Geborgenheit und Liebe in diesen täglich mehrfach wiederkehrenden Zeiten des Zusammenseins gesättigt wird.
Die späteren Ungeschicklichkeiten oder sogenannten Haltungsschäden der Kinder lassen sich oft daher erklären, dass sie als Säuglinge und Kleinkinder bestimmte Entwicklungsphasen nicht zur
Genüge auskosten konnten. Das Kind, das viel Zeit auf dem Schoß und in der Babywippe verbringt oder herumgetragen wird, kann diese Vielfalt an Übergangspositionen nicht ausprobieren, durch die
es sich selbst zum Sitzen und Stehen aufrichtet. Ebenso wenig wie es die verschiedenen Fortbewegungsarten (Rollen, Robben, Kriechen, Krabbeln, Bären- und Kniegang) ausreichend nutzt,
bevor es zum freien Gehen kommt.
Der Mangel an aktiver Bewegung im Säuglings- und Kleinkindalter, den man später häufig versucht mit Krankengymnastik und Schulsonderturnen auszugleichen, muss unsere Aufmerksamkeit darauf
lenken, dass vor allem im Kindergarten Zeit und Möglichkeit zum selbständigen Nachholen und Nachentfalten gegeben ist. Das heißt, dass wir dem Spielen der Kinder am Boden: dem Robben,
Kriechen und Krabbeln Beachtung schenken und Gelegenheit dafür anbieten; so können z.B. die Hocker zunächst mit der Sitzfläche nach unten zum Durchkriechen genutzt werden.
Ein Kind, dem genügend Zeit gelassen wird, alle Übergangsstufen selbst zu erkunden, entwickelt keine Höhenangst. Es geht darum, eine Atmosphäre zu vermitteln, in der die Kinder nicht vorzeitig,
d.h. von innen oder außen gedrängt, “hoch hinaus wollen”, sondern in der sie unser Vertrauen in ihre Selbsteinschätzung spüren. Dadurch können sie die hohe Leiter angstlos und im freien Spiel übersteigen, wenn sie sich dafür vorbereitet haben und es sich zutrauen.
Wer mit den Werken und der praktischen Arbeit Emmi Piklers und ihrer Mitarbeiter im Pikler-Institut in Budapest vertraut ist, kennt die Bedeutung, die dem freien Spiel des Kindes zukommt. Er bemerkt mit
Erschrecken, wie Kinder heutzutage immer weniger Zeit für diese - ihre wichtigste - Tätigkeit haben.
Viele Eltern und Erzieherinnen glauben noch immer, ohne Programm oder geplantes Projekt würden Kinder nichts lernen und nicht genügend auf die Schule vorbereitet werden.
Der Wert des kindlichen Spiels liegt in der Entdeckung der eigenen Möglichkeiten und der Erforschung der Welt und deren Gesetzmäßigkeiten. Dabei wird die Bedeutung der eigenen Initiative und Aktivität,
die von inneren Bedürfnissen für die Selbstfindung und Selbstverwirklichung ausgelöst werden, noch viel zu wenig beachtet. Den Erwachsenen kommt hierbei eine wichtige Aufgabe zu, denn sie schaffen
das Erfahrungsfeld, bereiten den Raum.

Ute Strub - Schülerin von Elfriede Hengstenberg